7. Kapitel

Über Bogotá, Kolumbien 26. November

Auf Bitten einer hübschen südamerikanischen Stewardess stellte John Hobart vor der Landung auf dem Eldorado Airport von Bogotá seinen Sitz in aufrechte Position und schaute ihr eher uninteressiert nach, als sie mit einem verführerischen Schwenken ihrer üppigen Hüften durch den schmalen Gang trippelte.

Er hasste das Fliegen, allerdings nicht aus Angst vor einem Absturz – irrationale Ängste waren ihm fremd –, sondern weil die Untätigkeit ihn verrückt machte. Die meisten Leute konnten ihre Zeit im Flugzeug gut nutzen, aber ihm war es in dieser monotonen Umgebung und bei dem dumpfen Summen der Motoren unmöglich, auch nur zu denken. Erst wenn die Räder den Boden berührten und die Passagiere ihre Sachen zusammenkramten, löste sich seine Erstarrung.

Zum tausendsten Mal schaute er aus dem Fenster. Keine einzige Wolke stand am Himmel. Der Captain hatte eine Temperatur von fünfzehn Grad gemeldet und eine leichte Brise aus westlicher Richtung.

Seit fast fünfzehn Jahren war Hobart nicht mehr in Kolumbien gewesen, aber er stellte fest, dass sich wenig verändert hatte. Ein Taxifahrer setzte ihn vor seinem Hotel ab und versuchte ihn immer noch wortreich zu überzeugen, dass er viel geeignetere Unterkünfte kannte. Es könnte ohne weiteres derselbe Mann sein, der ihn Anfang der achtziger Jahre durch die Stadt gefahren hatte.

Für einen Moment blieb Hobart auf dem Bürgersteig stehen und strich sich mit der Hand durch sein frisch gefärbtes tiefschwarzes Haar. Dank Höhensonne und Selbstbräuner war seine Haut beträchtlich dunkler geworden, und Kontaktlinsen färbten seine Augen braun.

Da er jedoch europäische Gesichtszüge hatte und Spanisch mit Akzent sprach, würde er trotz dieser Maskerade bestenfalls als halber Südamerikaner durchgehen.

Seine beiden großen schwarzen Taschen hatten den kolumbianischen Zoll passiert, ohne dass der diensthabende Beamte auch nur einen Blick darauf geworfen hatte. Hobart hasste es, etwas dem Zufall zu überlassen, aber manchmal war es einfach unvermeidlich. Wenn er das Pech gehabt hätte, kontrolliert zu werden, wäre der Beamte an ihrem Inhalt zweifellos sehr interessiert gewesen. Glücklicherweise wurde in aller Regel kaum etwas nach Kolumbien eingeschmuggelt.

Das Hotel war weit schlimmer als das in Warschau. In Europa schienen alte Gebäude einen ganz besonderen Charakter zu haben und erinnerten bei allem Verfall noch immer an eine glanzvolle Vergangenheit. In Südamerika war ein heruntergekommenes Haus einfach nur heruntergekommen. Das Hotel sah aus, als sei es erbaut worden, um gleich wieder zusammenzustürzen.

Das Zimmer war ungefähr das, was er erwartet hatte. Ein schmutziger Raum ohne irgendwelche Möbel außer einem Bett mit einer einzigen Decke und einem Klappstuhl. Dem Bett gegenüber hing ein Spiegel. Nach den Verfärbungen an der Wand zu urteilen, hatte er einstmals eine Kommode geschmückt.

Hobart schob seine Tasche unter das Bett und breitete einen zerknüllten Stadtplan darauf aus. Soweit er es beurteilen konnte, war die Bar, die sein Freund als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, ungefähr zwanzig Blocks entfernt. Da er bis zu ihrer Verabredung noch zwei Stunden Zeit hatte, beschloss er, zu Fuß zu gehen, um die Gegend kennen zu lernen. Außerdem würden ihm die frische Luft und die Bewegung gut tun. Bogotás Höhe von rund 2650 Metern über dem Meeresspiegel bereitete ihm bohrende Kopfschmerzen.

Es war fast vier Uhr, als er das Hotel verließ, aber die Wintersonne schien noch so stark, dass sie sein schwarzes T-Shirt aufheizte und das Jackett eigentlich unnötig gewesen wäre. Er zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und begann seine Wanderung durch die Stadt.

Das Gefühl, in die frühen achtziger Jahre zurückversetzt zu sein, wurde unterwegs immer stärker. Bogotá schien wie in einer Zeitschleife gefangen. In den Straßen wimmelte es von Menschen in Kleidern, die seit Jahren nicht mehr in Mode waren. Bei den Anstrichen der kleinen Häuser, die seinen Weg säumten, hatte man wenig Rücksicht auf die Farbe der Nachbarhäuser genommen. Viele sahen verlassen aus, Müll häufte sich in den Höfen, doch auf den Veranden sah man ihre Bewohner in der Sonne sitzen.

Immer wieder umringten ihn schmutzige Kinder und bettelten um Pesos. Er bemerkte, dass er einer der wenigen war, die so bedrängt wurden, was ihm bestätigte, dass seine Verkleidung wenig taugte.

Allmählich wurden die Wohnhäuser seltener, dafür gab es immer mehr grellbunte Läden und schäbige Bars. Statt des Geschreis spielender Kinder und der warnenden Stimmen ihrer Mütter hörte man plärrende Musik aus den kleinen cantinas, in denen trotz der frühen Stunde schon Betrunkene zu schrillen spanischen Rhythmen schwankten. Aus einer offenen Tür taumelte ein alter Mann und hätte Hobart fast angerempelt. Er landete in einem Stapel aufgeblähter Müllsäcke und kam wegen seines gestörten Gleichgewichtssinns nicht wieder hoch, was er offenbar überaus komisch fand. Sein heiser bellendes Lachen übertönte sogar den Lärm aus der Kneipe. Schließlich torkelte eine Frau zu ihm hinaus und zog ihn hoch. Arm in Arm gingen sie davon und stützten sich gegenseitig.

Hobart lief hinüber auf die ruhigere Seite der Straße und setzte seine Suche nach der Bar fort, in der sein Freund sich mit ihm treffen wollte.

Reed Corey und er waren in derselben Einheit der Special Forces in Vietnam gewesen, und nach Hobarts Ansicht hatte es kaum einen besseren Dschungelkämpfer in der Geschichte der U.S. Armee gegeben als Corey. Seit dem Kriegsende war er ziellos durch Asien und Südamerika gereist und schien einfach nicht mehr fähig, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen. Hobart verstand sein Dilemma. Nach drei Dienstzeiten in Vietnam, wo seine Truppe ihre ganz eigenen Gesetze gehabt hatte, war das Leben in Amerika bedrückend und voller Einschränkungen gewesen. Während er seinen Weg gefunden hatte, war Corey aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestiegen.

Ganz oder gar nicht – das war schon immer Coreys Devise gewesen, beim Trinken, beim Kämpfen, beim Sex. Nur eines lehnte er radikal ab, und das waren Drogen. Hobart erinnerte sich, wie er einmal einen seiner Männer fast totgeprügelt hatte, weil er Heroin bei ihm gefunden hatte. Er hatte nie das Bedürfnis seiner Kameraden verstanden, gelegentlich der grimmigen Realität des Krieges zu entfliehen. Das, was andere an den Rand des Wahnsinns trieb – die Hitze, die Insekten, der Regen, die Brutalität –, schien ihm überhaupt nichts auszumachen.

Warum sich das Hirn kaputtmachen, wenn man doch ein paar Schlitzaugen wegpusten kann, sagte er immer. Alles in allem ein perfekter Kandidat für diese Operation.

Nach einigem Suchen entdeckte Hobart endlich die Pinata Verde. Eine Tür gab es nicht; man ging einfach durch ein Loch, das in eine verzinkte Blechwand geschnitten war. Die Kneipe war fast leer. Hier und da saßen an den Tischen ein paar müde Gäste stumm vor leeren Schnapsgläsern. Der Barkeeper auf einem Hocker hinter der Sperrholztheke konzentrierte sich auf eine amerikanische Quizshow mit spanischen Untertiteln und versuchte, rascher zu antworten als die Kandidaten der Sendung.

Niemand beachtete Hobart, der langsam durch den Raum ging und in die einzelnen Nischen schaute. Er schlüpfte in die letzte und betrachtete die Kritzeleien, die in den billigen Holztisch eingeritzt waren. Offenbar hatte sich Corey ein wenig verspätet.

Eine einsame Gestalt an der Bar erwachte zum Leben. Der Mann bestellte zwei Drinks, rutschte unsicher von seinem Hocker und kam auf die Nische zu, in der Hobart saß. Er war eindeutig kein Einheimischer. Sein verfilztes hellbraunes Haar hing ihm bis auf die Schultern und rahmte einen wirren Vollbart ein, und mit seinem Batikhemd, den weiten Shorts und Birkenstocksandalen wirkte er wie ein Relikt aus der Hippiezeit.

Der Mann schlüpfte zu ihm in die Nische, wobei sein umfangreicher Bauch an die Tischkante stieß, und schob Hobart ein volles Schnapsglas zu.

»Hätte dich fast nicht erkannt, John. Du siehst aus wie ein verfluchter Latino.« Reed Corey zündete sich eine Zigarette hinter der gewölbten Hand an, obwohl sich in der Kneipe kein Lüftchen regte. Als die Flamme kurz das Gesicht erhellte, erkannte Hobart seine Augen. Sie waren wässrig und rot gerändert, aber es war tatsächlich sein alter Freund. Wortlos musterte er die fremde Erscheinung seines ehemaligen Armeekameraden, der ruhig seinen Blick erwiderte. »Es ist schön, dich zu sehen, John. Lange her.« Corey fuhr sich schniefend mit dem Handrücken unter der Nase durch.

»Mich freut’s auch, Reed. Du … hast dich verändert.«

Corey lachte und tätschelte seinen runden Bauch. »Tja, ein bisschen zu üppig gelebt.« Er wischte sich erneut die Nase.

Es war eindeutig angebracht, auf Plan B umzuschwenken. Hobart war nach Kolumbien gekommen in der Erwartung, er könne Corey überreden, die Drogen zu vergiften. Mit seiner Ausbildung, seinem Können und seiner Landeskenntnis wäre er der perfekte Kandidat für diesen Einsatz. Doch der Mann, der vor ihm saß, sah aus, als würde es ihm ziemlich schwer fallen, auch nur zwei Treppenstufen hochzusteigen. Er konnte bloß hoffen, dass Corey ihm wenigstens ein paar Informationen geben konnte.

»Also, was treibst du in Bogotá? Und warum diese Aufmachung?« Corey rutschte etwas zur Seite, legte seine Füße auf die Bank und schniefte erneut.

»Ich arbeite an einer kleinen Operation«, erwiderte Hobart zögernd. Seinem alten Freund konnte man nicht mehr länger vertrauen. Coreys Zustand sprach Bände – er war eindeutig drogensüchtig. Das könnte zwar von Vorteil sein, was die nötigen Informationen betraf, aber er bezweifelte, dass er Corey dazu bringen konnte, auch den Mund zu halten. Süchtige vergaßen in ihrer Gier nach Stoff rasch jedes Versprechen und alle Angst.

Im Moment blieb ihm jedoch keine andere Wahl.

»Ich könnte ein paar Auskünfte gebrauchen, und da bist du mir eingefallen.«

»Was für Auskünfte?«

Hobart beugte sich näher zu ihm. »Über Kokainherstellung.«

Corey schaute ihn überrascht an und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Ich habe gehört, du bist bei der DEA rausgeflogen. Bist du jetzt doch wieder dabei?«

»Nee. Ich arbeite für mich selbst.«

Corey rutschte noch näher und verrenkte den Hals, sodass niemand in der Bar seinen Mund sehen konnte, obwohl in den schäbigen Kneipen Bogotás vermutlich eher selten Lauscher hockten, die von Lippen ablesen konnten.

»Was genau willst du denn wissen?«

»Ich suche nach einer großen Produktionsanlage, die Koks in die USA liefert. Ich muss ihre exakte Lage wissen, wer sie leitet und wo sie die nötigen Chemikalien herkriegen.«

»Welche?«

Hobart zuckte die Schulter. »Spielt eigentlich keine Rolle.«

Corey lachte und lehnte sich wieder zurück. »Was hast du vor?« Er zündete sich an der Kippe seiner Zigarette eine neue an.

»Das ist meine Sache.«

»Auch recht.«

»Ich könnte außerdem eine Pistole gebrauchen, Kaliber 22.«

»Herrgott, John. Sonst noch was? Vielleicht eine verdammte Einladung zu Luis Colombars Geburtstagsparty?«

Hobart kannte den Namen. Colombar war der mächtigste der kolumbianischen Drogenbarone. »Das wird wohl nicht nötig sein.«

»Ganz schön heftig – wird mich einiges kosten. Ich muss dir nicht sagen, wie riskant es ist, nach solchen Sachen zu fragen. Können leicht die letzten Fragen sein, die man stellt, wenn du verstehst?« Seine Augen funkelten regelrecht begierig.

Hobart war völlig klar, dass Corey nur versuchte, den Preis in die Höhe zu treiben. Jemand wie er, der nur noch Drogen im Sinn hatte, wusste garantiert über alles bestens Bescheid. Doch er entschied sich mitzuspielen.

»Wie viel?«

Corey tat, als überlege er angestrengt. »Ich kann dir die Informationen vermutlich für … sagen wir mal fünftausend Dollar beschaffen. Die Knarre kostet bestimmt weitere tausend. Und das ist echt günstig, John. Ich verdiene dabei überhaupt nichts.«

»Ich kann mich auf deine Informationen hundertprozentig verlassen?«

Corey schien gekränkt. »Habe ich dich je enttäuscht?«

Das hatte er nicht. Hobart hoffte, dass er trotz seiner Drogensucht wenigstens noch einen Rest der absoluten Zuverlässigkeit hatte wie damals in Vietnam.

»Also sechstausend. Wann?«

Corey überlegte einen Moment. »Mittwoch. Abends um halb zwölf in der Bar gegenüber.«

Hobart passte es zwar nicht besonders, fast eine Woche untätig in Bogotá herumzusitzen, aber was blieb ihm übrig.

»Auf die alten Zeiten.« Corey hob sein Glas.

Hobart nickte und kippte den billigen Tequila.

Frühmorgens um halb drei stolperte Corey betrunken aus der Pinata Verde. Hobart hatte die letzten sechseinhalb Stunden regungslos in einer schmutzigen Gasse gegenüber gestanden und auf ihn gewartet. Er ließ ihn fünfzig Meter vorausgehen, ehe er ihm unauffällig folgte. Corey trottete fast eine halbe Stunde lang in nördliche Richtung, obwohl er mit seinem schwankenden Gang in dieser Zeit nicht allzu weit kam. Schließlich bog er in eine schmale Gasse ein, die auf eine leere vierspurige Straße führte. Ungefähr einen halben Block weiter bog er wieder ab und torkelte auf die Eingangstreppe eines weißen Hauses mit einem durchhängenden Dach zu. Er brauchte fast eine Minute, um das Schloss in der Tür zu finden.

Hobart wartete, bis er im Haus verschwunden war, dann wandte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Nach fünf Minuten gelang es ihm endlich, ein Taxi anzuhalten, das ihn zum Hotel brachte.

Schlaflos lag er auf der harten Matratze, bis die ersten Sonnenstrahlen allmählich zum Fenster hereindrangen. Unerwartete Veränderungen bei einem Plan machten ihn immer nervös. Es gab so viele Punkte zu berücksichtigen. Aber er hatte fünf Tage bis zu ihrem nächsten Treffen und nichts anderes zu tun als nachzudenken.

Langsam ging Hobart durch das kleine Zimmer, in dem er seit fast einer Woche hauste. Es war zehn Uhr am Mittwochabend. Fast Zeit.

Er hatte die vergangene Woche genutzt, um Bogotá und etliche der umliegenden Bergstraßen zu erkunden, hatte mit jedem geredet, der auch nur zuhören wollte, und sein rostiges Spanisch etwas aufpoliert, sich alles im allem aber wie ein Rennpferd gefühlt, das in der Startmaschine festhing. Doch nun ging es endlich weiter.

Da er inzwischen die Stadt einigermaßen kannte, fuhr Hobart mit seinem Mietwagen ohne Probleme durch Nebenstraßen und Gassen zu einem Parkplatz, der drei Blocks von seinem Ziel entfernt lag. Es war 23.28 Uhr. Er eilte die hell erleuchtete Straße hinauf und betrat die Bar gegenüber der Kneipe, wo er und Corey sich vor fast einer Woche getroffen hatten. Sie hatte keinen Namen, nur ein handgemaltes Schild hieß die Gäste willkommen. Das einzige Licht stammte von einer blitzenden Discokugel, und der Raum war überfüllt mit durchgeschwitzten Leuten, die schwankend zu einem ohrenbetäubenden Popsong tanzten. Hobart konnte sich an den Sänger nicht mehr erinnern, aber er erinnerte sich noch gut an das Jahr: 1977 hatte man diesen Hit ständig gehört.

Es war unmöglich, sich durch die Menge zu zwängen. Alle Tische waren an die Seite geschoben worden, und die Tänzer hatten die Fläche in Beschlag genommen.

Hobart holte noch einmal tief Luft und begann, sich methodisch an der linken Wand entlang zu schieben. Als er die rückwärtige Wand erreichte, ging er ein paar Schritte nach rechts und stürzte sich wieder ins Gewühl. Schweißtriefende Körper rempelten gegen ihn, verärgerte Tänzer schimpften, und ein Ellbogen, den ihm ein großer Mann mit einem Goldzahn ungewollt in den Magen rammte, nahm ihm fast den Atem. Wütend fragte sich Hobart, warum Corey ihn ausgerechnet hierher bestellt hatte. Es hätte sich sicher auch ein weniger überfülltes Lokal finden lassen, in dem sie nicht aufgefallen wären.

Schließlich erblickte er kaum zwei Schritte in dem Meer von schwarzen Köpfen einen einsamen braunen Haarschopf und arbeitete sich darauf zu. Er brauchte volle fünf Minuten, aber schließlich fand er sich neben seinem alten Freund wieder. Um nicht aufzufallen, schwankte er im Rhythmus der Menge mit. Corey schaute ihn an und wirbelte herum. Einen Moment lang dachte Hobart, sein alter Freund habe ihn nicht erkannt und wollte ihm schon einen scharfen Rippenstoß versetzen. Ehe er aber dazu kam, spürte er, wie ihm ein großer gepolsterter Umschlag zugeschoben wurde. Er ergriff das schwere Päckchen und zog ein Kuvert mit sechstausend Dollar aus seinem Hosenbund. Corey nahm es, packte eine ziemlich übergewichtige Frau, stieß sie auf Hobart zu und verschwand. Bis Hobart es geschafft hatte, die Frau abzuwehren, war Corey nirgendwo mehr zu sehen.

In seinem Mietwagen riss Hobart das Päckchen mit den Zähnen auf und verließ den Parkplatz. Er hatte nicht viel Zeit, falls Corey sofort nach Hause gegangen war.

Während seiner Erkundung von Bogotá hatte er sich die Strecke von der Bar bis zu Coreys Haus gut eingeprägt.

Es herrschte so spät am Abend nicht viel Verkehr, deshalb brauchte er sich nicht übermäßig aufs Fahren zu konzentrieren. Hobart schüttete den Umschlag auf dem Beifahrersitz aus und blickte nur gelegentlich auf die Straße, während er den Inhalt begutachtete.

Er bestand aus einer halbautomatischen Pistole des Kalibers 22, ungefähr zwanzig Patronen – die jetzt über den ganzen Beifahrersitz hüpften –, einer zusammengefalteten Landkarte und einem leeren Umschlag drauf. Auf ihm waren verschiedene Chemikalien notiert, die man für die Herstellung von Kokain benötigte, dazu Firmennamen und Adressen. Auf der Karte entdeckte er etwa in der Mitte einen kleinen Kreis, daneben war irgendwas mit Kugelschreiber gekritzelt. Das Licht im Wagen war zu schwach, um es lesen zu können.

Hobart stopfte alles zurück in den Umschlag, als er sich Coreys Haus näherte. Er hielt auf einem freien Platz ungefähr drei Blocks entfernt, sammelte die restlichen Kugeln vom Boden auf und warf den Umschlag in den Kofferraum.

Nachdem er zweimal geprüft hatte, dass er verschlossen war, ging er rasch über die Straße und in die Gasse, durch die Corey ihn vor einer Woche geführt hatte.

Zwischen einem Container und einigen Mülltonnen fand er einen leidlich bequemen Platz und wartete. Er hatte Coreys Haustür im Blick, wenn er um die Ecke der Gasse schaute, doch niemand, der vorbeikam, konnte ihn sehen. Hobart zog ein langes dünnes Messer aus der Scheide, die er um seine Wade geschnallt hatte, und legte es auf seinen Schoß. Die schwarze Klinge reflektierte kein Licht.

Zum zwanzigsten Mal schaute Hobart auf seine Uhr – er konnte gerade eben die Zeiger erkennen. Es war halb fünf.

Seit fast viereinhalb Stunden hockte er regungslos an seinem Platz. Nur drei Leute waren in dieser Zeit durch das Gässchen gekommen. Niemand hatte ihn gesehen, oder zumindest hatte niemand seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen. Schlafende Gestalten in irgendwelchen Winkeln waren in diesem Teil von Bogotá nichts Besonderes. Die Einzigen, die ihn beachteten, waren die Ratten, auf deren Gebiet er offenbar eingedrungen war. Ungefähr alle fünfzehn Minuten hastete eines dieser katzengroßen Nagetiere in einiger Entfernung an ihm vorbei, blieb stehen und starrte ihn an. Er starrte zurück und war gelegentlich versucht, mit etwas zu werfen, aber er wusste, dass genau in dieser Minute Corey um die Ecke biegen würde. Murphys Gesetz.

Seine Beine begannen sich zu verkrampfen, was ihm einige Sorgen machte. Corey mochte heute zwar ein fetter Drogensüchtiger sein; trotzdem musste er einkalkulieren, dass er früher eine gefährliche Kampfmaschine gewesen war. Alles musste in wenigen Sekunden vorbei sein, ehe Coreys Körper die Chance hatte, genug Adrenalin zu produzieren, um ihn aus seiner Betäubung zu reißen. Selbst wenn er nur noch die Hälfte seiner früheren Fähigkeiten besaß, könnte ein Kampf mit Corey für ihn tödlich enden.

Obwohl Hobart kaum zu Gefühlen fähig war, war ihm dieser Entschluss äußerst schwer gefallen. Das Wiedersehen mit seinem alten Freund hatte Erinnerungen aufleben lassen, die er für tot und begraben gehalten hatte. Erinnerungen an Corey, der leise durch den asiatischen Dschungel glitt, durch zähen Schlamm oder dichte Schlingpflanzen, und stets die Führung übernommen hatte. Coreys Instinkte und seine scharfen Augen hatten seine Kameraden öfter als einmal davor bewahrt, weggepustet zu werden.

Aber einen Corporal Reed Corey gab es nicht mehr, nur noch einen verkommenen, drogensüchtigen Penner. Ein Schädling. Für Hobart war Corey bereits tot – er würde es einfach nur amtlich machen. Er bedauerte lediglich, dass die Erinnerungen an ihn nun für immer überschattet sein würden durch diese letzte Begegnung.

Es gab jedoch keine Alternative – allerdings hatte Hobart sich auch nur wenig Mühe gegeben, eine zu finden. Corey war ein unkalkulierbares Risiko. Sollte er zwei und zwei zusammenzählen und darauf kommen, dass Hobart hinter den Vergiftungen steckte, würde er diese Information zweifellos ohne Bedenken an den Meistbietenden verkaufen. Der Gedanke, vom FBI und gleichzeitig von Killern des Kartells gejagt zu werden, war alles andere als angenehm. Deshalb war diese Lösung am besten.

Gegen sieben Uhr bemerkte Hobart, dass die Morgendämmerung anbrach. Das erste Licht des aufziehenden Tages setzte ihn schutzlos allen Blicken aus, und er war hundemüde. Es war Zeit zu verschwinden. Corey würde sowieso nicht mehr kommen.

Mühsam stand er auf, aber sein Kreislauf kam rasch wieder in Schwung, als er hinüber zu Coreys Haus ging. Im Näherkommen bemerkte er einen Umschlag, der an die Tür geklebt war. Er war auf der rissigen weißen Farbe fast nicht zu sehen. Hobart sprang die Treppe hinauf und riss ihn ab in der Hoffnung, dass er ihm vielleicht irgendeinen Hinweis darauf geben würde, wo Corey steckte. Zu seiner Überraschung war er an ihn adressiert. Der Brief darin war in der gleichen präzisen Handschrift geschrieben wie die Liste mit Chemikalien in seinem Kofferraum.

John,

ich weiß nicht, was du vorhast, aber da ich dich kenne, ist es sicher ein größeres Ding. An deiner Stelle würde ich nicht wollen, dass irgendein kleiner Koksdealer herumläuft, der zu viel weiß. Du hasst unkalkulierbare Risiken sogar noch mehr als ich – erinnerst du dich an Pyon Te? Deshalb dachte ich, ich nehme dein Geld und verschwinde in einen kleinen Urlaub. Ich will dir aber versichern, dass die Informationen, die ich dir gegeben habe, korrekt sind und dass ich unser Gespräch mit ins Grab nehmen werde. Viel Glück – was auch immer es ist, das du vorhast.

Der Brief trug keine Unterschrift.

Ausgetrickst von einem Kokser. Hobart zerriss die Notiz in kleine Stücke, während er zurück zu seinem Wagen ging, und warf die Fetzen wütend auf den Boden.

Pyon Te.

Vage erinnerte er sich an den Namen. Ein Dorf irgendwo im Südosten Vietnams. Sein Trupp war dorthin geschickt worden gegen Ende der Regenzeit im Jahr – 1969? Es war ein Routineeinsatz gewesen. Die Bewohner sollten zusammengetrieben und befragt werden, da es Gerüchte gab, dass der Vietkong in dieser Gegend aktiv sei. Was war dort geschehen, dass Corey es mehr als zwanzig Jahre später erwähnte?

Es fiel ihm ein, als er den Schlüssel ins Schloss des Mietwagens steckte.

Der Regen war den ganzen Tag über wie ein Sturzbach heruntergeprasselt, wodurch Hobart und seine Truppe das Dorf mehr als zwei Stunden später erreicht hatten und es allmählich dunkel wurde. Sie hatten die Hütten umzingelt und waren langsam durch den Schlamm darauf zugekrochen, Corey wie immer vorneweg. Bis Hobart in der Dorfmitte angekommen war, knieten fast alle der ungefähr zwanzig Einwohner am Rand des angeschwollenen Flusses, der sich am Dorf vorbeischlängelte.

Hobart hatte gerade einen besonders starrköpfigen Bewohner befragt, als er ungefähr fünfzehn Meter südlich eine Bewegung erhaschte. Der Regen hatte so weit nachgelassen, dass er ein Kind von zehn oder elf Jahren erkennen konnte. Wortlos hatte er seine Pistole gehoben und einen einzigen Schuss abgegeben. Die Kugel hatte das Kind direkt ins Ohr getroffen.

Unerklärlicherweise war Corey darüber tief erschüttert gewesen. Eine ganze Weile hatte er in stummer Trauer bei der kleinen Leiche gestanden. Hobart hatte gar keine andere Wahl gesehen. Das Mädchen hätte in weniger als einer Stunde etliche umliegende Dörfer erreichen können, und falls sich in der Gegend tatsächlich Vietkongkämpfer herumtrieben, wäre seine Truppe in Teufels Küche gekommen. Corey hatte das nicht so gesehen.

Keine unkalkulierbaren Risiken.

Im Hotel breitete Hobart den Inhalt des Umschlags auf seinem Bett aus. Er lud die Pistole und steckte die restlichen Kugeln in seine Tasche. Die Waffe schien gut in Schuss zu sein, aber er bedauerte, dass er vergessen hatte, auch ein Halfter zu verlangen. Anschließend breitete er die Karte auf dem Bett aus. In einer Gebirgsregion ungefähr fünfzig Meilen von Bogotá entfernt war ein kleiner blauer Kreis eingezeichnet; daneben stand die exakte Längen- und Breitenangabe einer Raffinerie. Er lächelte. Mochte der Teufel wissen, wo Corey die präzisen Koordinaten herhatte. Immer noch der alte Zauberer.

Er legte die Waffe und die Karte unter seine Matratze und griff nach dem kleinen weißen Umschlag. Mit dem Finger fuhr er die Liste auf dessen Rückseite hinunter, bis er fand, wonach er suchte.

KEROSIN: GARCIA QUÍMICO: 12 ROHO

Mark Beamon 01 - Der Auftrag
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